35: Metro für Fortgeschrittene

35: Metro für Fortgeschrittene

Gérald ist Frankreich und ich bin verloren. Jeden morgen ist der Kollege mein Fahrer zu Arbeitsstätte, nur diese Woche nicht, denn er ist eine Woche in Frankreich. Also gilt es auf alternativen Wegen zur Arbeit zu kommen.

Der Company Bus, scheidet aus, da er unchristlich früh startet und so in der Firma ankommt, dass man pünktlich um 7:15 direkt mit dem Frühstück in der Kantine starten kann. Bei allem Respekt, aber das Frühstück in der Kantine ist eklig. Also würde ich bis 8 Uhr alleine im Büro „rumsitzen“ und mit deutschen Kollegen kann ich auch nicht telefonieren, da die gerade schlafen gegangen sind. Lange Rede kurzer Sinn. Ich habe mich für die Variante mit der Metro entschieden. Das bringt mir ca. 1 Stunde mehr Schlaf und damit auch meinen chinesischen Kollegen einen entspannteren Arbeitstag.

Ich verlasse also um 6:45 Uhr das Haus um mit meinem Elektromobil geräuschlos die 2,5 km zur passenden Metrostation zu knattern. Die Benutzung des E-Scooters erspart mir ewiges Laufen und zweimaliges Umsteigen, in Summe mindestens 30 min. Von da an gilt es mit der Metro Linie 11 stattauswärts zu fahren. Die letzen drei Kilometer von der Metrostation bis zum Haupteingang der Firma, kann ich mit dem Bus fahren.

Ich bin mit dem Umgang der öffentlichen Verkehrsmittel in Shanghai inzwischen auch nicht mehr unerfahren, denn mehr als einmal ist es bisher vorgekommen, dass ich länger arbeiten musste als Gérald und für den Heimweg auf die Metro angewiesen war. Nur macht es einen erheblichen Unterschied ob ich nach Hause fahre oder zur Arbeit fahre. Jetzt könnte man meinen es ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen Himmel und Hölle, nun ja vielleicht, wobei ich dies gar nicht meine, sondern die Metrolinie 11 ist eine Gabellinie, sprich jeder Zug in den ich mich hineinstelle, bringt mich nach Hause, aber nur jeder zweiter Zug in den ich mich hineinstelle bringt mich zur Arbeit. Die Schwierigkeit liegt also darin bei der Abfahrt zur Arbeit den richtigen Bahn zu erwischen.

Ohne mich selbst beweihräuchern zu wollen, aber ich empfand mein methodisches Vorgehen zur Bestimmung des richtigen Zuges als Musterhaft. Damit ihr nicht dumm sterben müsst will ich mein Wissen auch gerne mit euch teilen.

Im Prinzip ist die Idee auch ganz einfach: Ich habe mir die chinesischen Schriftzeichen eingeprägt, die auf dem Bahnhofsmonitor angezeigt werden, welcher die Wartezeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges anzeigt. Dann bin ich in den Zug eingestiegen, ohne zu wissen wohin er fährt und habe eine hübsche junge Frau auf englisch gefragt wohin der Zug fährt. Und hier kommt der Trick: jetzt habe ich also meine Korrelation zwischen den chinesichen Schriftzeichen auf der Abfahrtstafel und dem Endziel des Zuges. Da ich ein Sonntagskind bin, habe ich auch gleich am ersten Tag Glück und sitze bereits im richtigen Zug. Ganz nebenbei bemerkt wird natürlich auch im Zug selber kurz vor der Gabelstelle per Lautsprecher angesagt wohin genau dieser Zug unterwegs ist. Zu meinen Verdruss ist die Ansage für mich allerdings nicht besonders hilfreich denn ich verstehe immer nur: „<chinesisches Kauderwelsch> … Anting … <chinesisches Kauderwelsch> … Jiading Bei … <chinesiches Kauderewelsch>“ Das heißt ich höre in dem gleichen Satz immer sowohl den richtigen Stationsnamen: Jiading Bei als auch den falschen: Anting.

Macht aber nichts, denn man muss sich ja nur zu helfen wissen. und ich habe ja inzwischen den Zusammenhang zwischen den Zeichen und der Endstation. Ab hier wird es also ein Klacks, am nächsten Tag einfach auf dem Monitor nach den Zeichen vom Vortag schauen und in den passenden Zug einsteigen. Zur Sicherheit, ich bin ja nicht blöd, habe ich mit meinem Handy auch noch ein Foto vom Monitor gemacht. Also habe ich am zweiten Tag sorgfältig die Zeichen verglichen und auch auf alle Nuancen der kleinen Beistriche geachtet und bin dann in den nächsten einfahrenden Zug eingestiegen. Als Hosenträger habe ich dann noch mal eine hübsche junge Frau auf englisch gefragt wohin der Zug fährt und Bingo Sie nannte mir die gewünschte und erwartete Endhaltestelle. Am dritten Tag breitet sich bereits Routine aus und ich verzichte auf das Nachfragen der Endhaltestelle und prompt biegt die blöde Metro an der Gabelstelle sauber in die falsche Richtung ab. In diesem Moment bricht mein Weltbild zusammen und ich zweifle ernsthaft an meinen Chinesischkenntnissen. Ich stehe jetzt also   an der Station Shanghai Circuit und muss wieder eine Haltestelle zurück um dort in den wie auch immer erkennbaren richtigen Zug einzusteigen. An diesem Morgen komme ich also ca. 45 min zu spät und habe dabei noch richtig Schwein gehabt, denn just an diesem Tag geistert ein Filmteam durch die Abteilung und dreht einen Promotionsvideo mit gestellten Besprechungsszenen. Ich entkomme durch meine Verspätung der Statistenrolle.

Selbstverständlich brenne ich darauf zu erfahren was genau ich falsch gemacht habe und frage die Sekretärin mittels des Fotos, was genau auf der Metroanzeige steht. Sie sagt ganz trocken: „Der nächste Zug fährt nach:“ Diese Zeichen waren also die Grundlage für meine Entscheidung mich in den Zug zu setzen. Korrekt wäre es gewesen auf die Zeichen 嘉定北 in den Zug einzusteigen, denn diese und nur diese stehen für die gewünschte Endhaltestelle Jiading Bei.

Von der Aktion, dass ich mich einmal auf dem Heimweg, um zur Metrostation zu kommen, in den falschen Bus gesetzt habe und ich danach über eine Stunde durch die Prärie gelaufen bin, um zur nächstbesten Metrostation zu kommen, schreibe ich euch am besten ein anderes mal.